4. KAPITEL Robs drückte Nellie an sich und schaute das Mädchen an. Sie war genauso gross wie er. Ihre Haare waren tiefschwarz und hingen ihr zu Zöpfen geflochten über die Schultern. Die Zöpfe kamen unter einer seltsamen Mütze hervor, die aus dickem braunem Leder war und an den Seiten lange Klappen hatte, bis über die Ohren. Anstatt eines Pullovers trug das Mädchen ein weisses Fell um den Leib und über eine Schulter gewickelt, und anstelle einer Hose trug sie einen Schurz aus abgeschabtem Leder. Die Beine darunter waren nackt und steckten in dicken Stiefeln aus Fell, die ihr fast bis zum Knie reichten. Es war die Kleidung der Eskimos. Sie kam näher, und er sah, dass sie Schlitzaugen hatte und ihre Haut dunkel war. Ein bisschen sah sie aus wie eine Indianerin.
«Warum lachst du?»
«Mein Volk lacht immer», sagte sie. «Das ist ein Zeichen von Freundschaft.» Sie lachte noch lauter. Es war ansteckend, und Robs stimmte ein.
Als sie fertig gelacht hatten, fiel ihm auf, wie kalt es plötzlich war.
«Gut, dass du gekommen bist», sagte das Mädchen, «ich brauche Hilfe.»
«Ich weiss», sagte Robs. «Du hast deinen Hund verloren.»
Das Mädchen blickte ihn verwundert an.
«Wieso?» fragte sie. «Meinen Hund habe ich gar nicht dabei. Der ist zu Hause und wartet auf mich. Ich bin allein hier.»
«Du hast nicht deinen Hund verloren?» fragte Robs.
«Nein. Wie kommst du darauf?»
«Es steht in meinem Buch», sagte Robs.
«Du hast ein Buch über mich?»
Ihre Augen wurden immer grösser.
«Ja…», sagte Robs, «ich weiss nicht.» Er kam sich albern vor. Plötzlich war er nicht mehr sicher, ob sie wirklich ein Eskimo war. «Ich habe ein Buch mit einer Geschichte, in der ein Mädchen ihren Hund verliert und ihn lange nicht finden kann. Ich dachte, du wärst das gewesen.»
Das Mädchen lachte.
«Bücher sind schön» sagte sie, «aber sie haben nicht immer recht. Komm, gehen wir hier entlang.»
Sie zog Robs mit sich. Er war froh, dass sie sich in Bewegung setzten. Ihm wurde kälter und kälter.
«Wie heisst du denn?» fragte das Mädchen.
«Robs», sagte Robs.
«Ich heisse Nittaalaq», sagte das Mädchen.
«Wie bitte?» fragte Robs.
«Es bedeutet «Einzige Schneeflocke>». sagte sie. «Du kannst Nitta zu mir sagen.»
«Du heisst Schneeflocke», murmelte Robs, «wie schön.»
«Und wie heisst dein Hund?» fragte Nitta.
«Nellie? Er heisst Nellie», sagte Robs und hielt Neliie so, dass sie ihn streicheln konnte.
«Er ist süss», sagte Nitta. «Mein Hund fehlt mir sehr.»
«Ist er in Grönland?» fragte Robs vorsichtig,
«Du weisst, dass ich aus Grönland komme?»
«Das sehe ich an deiner Kleidung», sagte Robs.
«Weisst du auch, wie wir Grönland nennen?»
«Ihr nennt es «Land der Menschen.»
«Stimmt», sagte Nitta, «Kalaait Nunaat, Land der Menschen. Du weisst viel darüber.»
«O ja», sagte Robs, «ich will später auch dort leben. Wo gehen wir denn hin?»
«Zu mir», sagte Nitta,«Ich habe eine Hütte im Wald. Es ist sehr kalt dort. Frierst du leicht?»
«Ich friere überhaupt nicht leicht. Ausserdem habe ich alles dabei: Handschuhe, Schal und Mütze.»
«Das ist sehr klug von dir.»
Robs freute sich über das Kompliment.
«Wenn du mir helfen willst», sagte Nitta, «musst du wissen, warum ich hier bin. Es
ist eine längere Geschichte. Willst du sie hören?»
Robs nickte schnell. Er war sehr neugierig.
5. KAPITEL «Sie beginnt in einer Zeit, als meine Familie noch nicht in Grönland lebte. Das war vor mehr als zehntausend Jahren. Es ist eine sehr alte Familie. Und sie stammt aus dieser Gegend hier.»
«Von genau hier?» fragte Robs erstaunt,
«Ja», sagte Nitta, «aber du darfst dir die Gegend nicht so vor stellen, wie sie jetzt ist. Die Stadt und den Wald hier – das alles gab es damals nicht. Das ganze Land lag unter einer dicken Eisschicht. Das Eis war noch viel dicker, als die Bäume hoch sind, es schmolz das ganze Jahr über nicht. Es war immer kalt, es gab keinen Sommer. Die Menschen lebten in Häusern, die sie aus Eis gebaut hatten, und sie ernährten sich von den Tieren, die auch auf dem Eis überleben konnten. So lebt meine Familie heute noch. Die Männer gehen auf die Jagd nach Seehunden und Fischen, die Frauen bauen die Häuser, nähen Kleider aus den Häuten der Tiere und bereiten das Essen.
Lange Zeit waren alle zufrieden mit diesem Leben. Doch eines Tages kamen Wanderer aus dem Süden in die Gegend. Sie froren, weil ihre Kleider zu dünn waren, nur aus Fäden gewebt. Und ihre Schuhe schlossen die Füsse nicht ein.
Als sie bei meiner Familie, den Eismenschen, ankamen, wurden sie freundlich aufgenommen. Man brachte sie in die Eishäuser, in denen es immer warm ist, und gab ihnen zu essen. Als sie sich erholt hatten, schauten sie sich die Gebräuche der Eismenschen an und lernten, wie man überlebt.
Doch vielen von ihnen gefiel es nicht im Eis. Sie begannen von ihrer Heimat zu erzählen. Sie erzählten von der Sonne, die dort nicht blass war, sondern leuchtend und heiss. Sie erzählten von Wäldern, Bergen und Seen, von Blumen und von der feuchten, duftenden Erde, Viele der Eismenschen hörten zu. Sie hatten noch nie Erde gesehen, denn hier war diese immer unter dem Eis eingesperrt, und sie wussten nicht, was eine Pflanze ist. An Tieren kannten sie nur Eisbären, Polarfüchse und Robben. Sie glaubten, dass die Südländer von einer Zauberwelt erzählten. Ein grosser Teil der Eismenschen bekam Sehnsucht nach diesem Leben.»
«Ich mag Eis und Schnee», sagte Robs. «Ich hätte den Südländern gar nicht zu gehört.»
«So ging es auch dem anderen, kleineren Teil der Eismenschen. Sie waren Menschen, die das Eis liebten. Sie trugen es im Herzen und wollten es gegen nichts eintauschen. So wie du», sagte sie und sah Robs von der Seite an. «und so wie ich.»
Robs lächelte geschmeichelt. Er wusste jetzt, dass Nitta zu ihm gekommen war, weil er die Kälte liebte wie sie selbst.
«Es kam zum Streit», sagte Nitta. «Immer mehr von den Eismenschen hatten die Kälte satt, sie riefen das ganze Volk auf, in den Süden zu ziehen. Und plötzlich hassten sie alle, die weiter im Eis leben wollten. Sie nannten sie «Die Kalten», und sich selbst nannten sie «Die Warmen». Eine schlimme Zeit brach an. Es gab Kämpfe, und die Warmen waren in der Überzahl und trieben die Kalten immer weiter in den Norden hinauf. Die Kalten nahmen das Eis in ihren Herzen und den Winter mit sich. Schliesslich bauten sie sich Schiffe und flohen noch weiter nördlich über das Meer, bis in die Gebiete des allertiefsten Winters, wohin niemand sie verfolgen wollte.
Seitdem ist die Zeit des Eises hier vorbei. Niemand, der hier geboren ist, kann sich noch daran erinnern, aber tief in den Seelen gibt es eine kleine Ecke, die noch von der Kälte träumt und vom Schnee und von Sonnenstrahlen, die sich im kristallklaren Eis brechen zu bunten Lichtfontänen. In den Herzen tragen alle Menschen hier noch einen winzigen Klumpen vom ewigen Eis. Und so verspüren sie immer eine Sehnsucht nach dem Weiss, der Sauberkeit und der Stille. Keiner versteht diese Sehnsucht, aber jeder kennt sie. Und deshalb muss es Winter werden jedes Jahr, damit das kleine Stück Erinnerung zum Leben erwachen kann und die Menschen glücklich sind.»
6. KAPITEL «Jetzt weisst du, warum es Winter werden muss», sagte sie. «Aber du weisst noch nicht, wie der Winter gemacht wird. Niemand hier weiss es. Und darum braucht ihr uns.»
Robs blieb stehen und staunte,
«Soll das heissen, ihr macht den Winter?» fragte er.
«Um genau zu sein», sagte sie, «hier in dieser Gegend mache ich ihn. Die Erwachsenen haben ihre Pflichten im ewigen Eis. Sie müssen die Familien ernähren und das Eis bewahren. Deshalb schicken sie jedes Jahr die Kinder in den Süden, jedes in eine andere Region.»
Eine Weile gingen sie schweigend. Nitta überlegte.
«Also», sagte sie schliesslich. «Ich habe dir ja gesagt, dass mein Volk das Eis auf seiner Flucht mit sich genommen hat. Wir tragen es im Herzen. Viel mehr weiss ich auch nicht darüber. Ich komme einfach her, und alles, was ich tun muss, ist schlafen...», ihre Stimme wurde immer leiser, «...und von zu Hause träumen.»
Plötzlich drehte sie den Kopf weg, und Robs hörte, wie sie schluckte und schniefte. Er dachte, sie würde weinen, aber als sie ihm das Gesicht wieder zuwandte, waren ihre Augen trocken. Nur sehr ernst sah sie aus.
«Im Schlaf muss ich die weiten Eisebenen sehen», sagte sie, «auf denen die von innen beleuchteten Eishäuser glühen, ich muss von den Eismenschen träumen, wie sie Feuer machen aus Seehundfett, und von den schlingernden grünen Fahnen der Polarlichter über ihren Köpfen. Ich muss sogar den Tran der Wale riechen im Traum, und dann, während ich schlafe, wird es kälter und kälter, es fängt an zu schneien, und der Winter ist da. Dann kann ich zurückkehren. Die Kälte reicht mindestens für ein paar Wochen.»
Robs merkte, dass sein Mund offen stand, und er klappte ihn zu.
«Ein einziger Traum reicht für ein paar Wochen Winter bei uns?» fragte er erstaunt.
Nitta nickte.
«Und diesmal?» fragte er vorsichtig.
Sie schwieg eine Weile.
«Ich bin schon seit zwei Wochen hier!» sagte sie verzweifelt. «Und ich habe kein einziges Mal von zu Hause geträumt!»
«Woran liegt denn das?» fragte er.
«Ich weiss nicht», sagte sie. «Dieses Jahr stinkt in meiner Hütte irgendwie alles nach Lack. Vielleicht stört mich das. Ich schlafe schlecht.»
«Vielleicht hat der Förster sie frisch angestrichen», sagte Robs.
Sie hob ihr kleines Gesicht und sah ihm direkt in die Augen. «Du musst mir helfen. Ich habe solches Heimweh.»
Robs hätte sie gerne in den Arm genommen und geschaukelt, so wie seine Mutter es mit ihm machte, wenn er traurig war. Langsam nahm er ihre Hand in seine. Hand in Hand gingen sie den Weg entlang und sprachen nicht mehr. Robs überlegte angestrengt, was zu tun war.